Wir sind doch alle Menschen – also müsste unser Miteinander ganz einfach sein. Gleich und Gleich gesellt sich gerne. Häufig ist aber gerade das unser grösstes Problem.
Roswitha Wurm
20. Juni 2017

Ja, wir sind alle gleich: Jeder von uns möchte bei den anderen geschätzt, anerkannt und bestenfalls sogar geliebt werden. Von Klein auf bekommen wir vermittelt: «Wenn du nur artig, lieb und nett zu anderen bist, dann werden dich die Menschen lieben.»

Leider merken wir schon bald, dass das nicht so ist. Wir denken: Wir waren zu wenig nett zu unseren Freunden, unserem Partner, unseren Kindern. Daher bemühen wir uns noch mehr, alles zu deren Befriedigung zu erledigen. Leider fruchtet auch das nicht und so geraten wir in das eine oder andere massive Beziehungsproblem.


Berechnende Beziehungen

Auch das christliche Gedankengut wird immer mehr vom Prinzip unterwandert: «Das Gute, das du anderen tust, kommt irgendwann auf dich zurück.» Bibelverse werden umgedeutet, um das zu untermauern. Der Vers in Römer 8,28 wird dafür besonders gerne verwendet, um daraus abzulesen, dass alles gut wird, da Gott ja alle Dinge, denen, die ihn lieben, zum Besten mitwirken lässt. Das bedeutet allerdings nicht immer, dass alles gut wird, in dem Sinn, dass jede Beziehung wieder heil wird. Dann dürfte es hier auf der Erde keine Gemeindespaltung, weder Ehebruch noch Scheidung, keine zerbrochene Freundschaft und keine zerrütteten Familien geben. Gott lässt den Menschen die freie Wahl, auch in Beziehungen. Wir sind keine willenlosen Marionetten. Nicht jede zerbrochene Beziehung wird wieder heil, aber Gott hat fest versprochen, denen nahe zu sein, die zerbrochenen Herzens sind. Er achtet sehr auf Verletzte, Betrogene und Weggestossene und tröstet und hilft ihnen. Gott kann die schlimmsten Beziehungsprobleme verwenden, um den Betroffenen in ganz besonderer Weise nahe zu sein.

Das Prinzip «So ich dir, so du mir» entspricht nicht dem biblischen Gedankengut. In Sprüche 24,29 werden wir sogar ausdrücklich darum gebeten, nicht so zu denken und zu handeln: «Sprich nicht: Wie einer mir tut, so will ich ihm auch tun und einem jeglichen nach seinem Tun vergelten.» Bist du eine liebe Tochter, dann bin ich auch freundlich zu dir. Bist du ein guter Vater, dann gehorche ich dir. Sind Sie ein freundlicher Chef, erledige ich meine Arbeit gewissenhaft. Diese Geisteshaltung gibt es schon seit langer Zeit: Sir Walter Scott schrieb bereits im 19. Jahrhundert: «Ka me, ka thee (Dienst du mir, diene ich dir) ist der Lehrsatz der ganzen Welt.» Zu unserem Glück ist es kein göttliches Prinzip. Dann wären wir alle verloren. «Denn Christus ist für uns, als wir noch kraftlos waren, zur bestimmten Zeit für Gottlose gestorben. Denn kaum jemand würde für einen Gerechten sterben, denn für den Gütigen möchte vielleicht jemand von euch zu sterben wagen. Gott aber erweist seine Liebe gegen uns darin, dass Christus, als wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist» (Römer 5,6–8).

(Artikelauszug aus ethos 6/2017)