Was mich hält, wenn nichts mehr hält
Ingo Krause
10. Oktober 2025

Die Frage nach der Identität ist nicht nur ein Modethema unserer Zeit – sie ist so alt wie die Menschheit selbst. Sie wurde jedoch in jeder Epoche anders beantwortet. In der Antike hiess es «Erkenne dich selbst» (Delphi), im Mittelalter wurde die Identität vor allem mit dem gesellschaftlichen Stand verbunden und mit der Aufklärung und der Moderne kam die Vorstellung «Ich denke, also bin ich» (Descartes) auf. Heute wird Identität als «fluide» (von lat. fliessend) und im Prinzip nicht mehr bestimmbar dargestellt und vor allem an der Geschlechtlichkeit festgemacht.

Die Suche nach Identität spiegelt die Suche des Menschen nach seinem Wert wider. Deshalb inszenieren sich Menschen auf Instagram oder TikTok, deshalb läuft jemand mit blau-pinken Haaren durch die Fussgängerzone oder schliesst sich einer politischen Initiative an. Jeder möchte auffallen, wertvoll sein, wahrgenommen werden, sich von anderen abheben, etwas Bedeutsames beitragen, das andere anerkennen, und sich mit seinen «Werten» letztlich aufwerten.

Der Schöpfer als Mitte – oder eben nicht

Hätte man Adam im Garten Eden die Frage gestellt: «Wer bist du?», dann hätte er vielleicht geantwortet: «Ich bin von Gott geschaffen, geformt aus Erde und belebt durch seinen Atem. Ich bin nach dem Bild Gottes geschaffen und dazu berufen, über seine Schöpfung zu herrschen, wie er es mir aufgetragen hat.» Alles an dieser Antwort hätte mit Gott zu tun gehabt. Adam sah seine Herkunft, seine Art, sein Wesen und seinen Auftrag als in Gott begründet. Gott als unveränderlicher Halt gab Adam Sinn, Identität und Wert. Gott erschuf den Menschen, und für diesen Menschen drehte sich alles um den Schöpfer – so beginnt die Heilige Schrift ihren Bericht.

Elf Kapitel und etwa 2000 Jahre später dreht sich alles nur noch um den Menschen. Die Menschheit hat sich einen Turm gebaut, um sich selbst zu beweisen: Schaut her, wir sind wer! Wir sind unsere eigenen Schöpfer und machen unsere Geschöpfe zum Mittelpunkt. Wir sind stolz auf unsere Leistung, denn das gibt uns Identität. Aber wie Luther schon sagte: Was Gott nicht hält, das hält nicht. Und so zerbricht diese Gemeinschaft der Menschen an einer grossen Sprachverwirrung. Ein Turm als Mittelpunkt hält nicht zusammen – genauso wenig wie es die Wissenschaft, die Kultur, die Sprache, die Religion oder irgendetwas anderes, das wir Menschen erschaffen, könnte. Der Schöpfer als Mitte ist unersetzbar, das beweist die Menschheitsgeschichte.

Was uns antreibt und bestimmt

Als Paulus im ersten Kapitel des Römerbriefes die römische Kultur beschreibt, kommt er auf diesen Gedanken der Mitte und des Halts zurück. Er spricht von der dreifachen Vertauschung, die in der Hochkultur der Römer, aber auch bei jedem Menschen persönlich zu beobachten ist und gravierende Folgen hat: die Vertauschung des lebendigen Gottes mit vierfüssigen Tieren (Röm. 1,23), die Vertauschung der Wahrheit mit der Lüge (Röm. 1,25) sowie die Vertauschung der natürlichen mit der unnatürlichen Sexualität (Röm. 1,26). Hinzu kommt das Gefallen an denen, die sich so verhalten (Röm. 1,32). Alles beginnt also mit der Gottesfrage – dem HALT.

Das, was unserem Leben Halt gibt oder Halt geben soll, bestimmt die HALTUNG – also die Tugenden und Werte, die wir für richtig erachten. Daraus folgt das VERHALTEN, die Alltagsentscheidungen, die wir täglich treffen. Das prägt wiederum die VERHÄLTNISSE, in denen wir leben, also mit welchen Gruppen wir uns umgeben und über welche Zugehörigkeiten wir uns definieren. Klar ist: Jeder Mensch hat etwas, das ihn antreibt, ihn morgens aus dem Bett holt und in der Not halten soll – aber nicht jeder Halt hält. Und jeder Halt hat etwas mit einem Glauben zu tun, den ein Mensch darauf verwendet. Die einen glauben an die Rettung der Welt durch Klimaschutz, die anderen an soziale Gerechtigkeit, wieder andere an Gesundheit, Demokratie, Frieden durch Toleranz oder Wohlstand. Viele glauben auch an mehrere Dinge gleichzeitig. Es gibt immer etwas, das uns antreibt (Halt), unsere Werte und Tugenden bestimmt (Haltung) und unsere Entscheidungen prägt (Verhalten), wodurch wiederum bestimmt wird, mit wem wir uns umgeben und wen wir meiden (Verhältnisse). Das war schon immer so und wird immer so bleiben.

Wo komme ich zur Ruhe?

Wenn wir heute von Identität sprechen und meinen, sie in 66 Geschlechtern oder in der Klimarettung zu finden, dann zeugt das von der Haltlosigkeit unserer Generation. Wir wissen gar nicht mehr, wo der Halt zu finden ist, und suchen ihn sogar in der Sexualität, die sich schon immer als ambivalent und kompliziert erwiesen hat.

Lesen Sie den ganzen Artikel in ethos 06/2025