Eine Begegnung mit Folgen.
Traugott Hopp
20. Dezember 2019

Er sitzt unbeachtet auf den Stufen am Bahnhofsvorplatz einer deutschen Grossstadt. Wenn Menschen ihn ansehen, dann kann er diese Mischung aus Verachtung und Furcht spüren. Er ist einer von den «offensichtlichen» Wracks, die sich auf solchen Plätzen einfinden. Wenig Hoffnung – worauf auch?

In einiger Entfernung tauchen ein paar Menschen auf, die sich zusammenstellen und singen. Immerhin – mal ein anderer Klang als das Brummen der Busse und Autos. Er hat Zeit, also hört er hin. Auf einmal wird er «ganz Ohr», denn da spricht jemand in seiner Sprache. Auf Russisch hört er von Gott, von Jesus, von guter Botschaft für Menschen im Abseits, von Vergebung und Neuanfang. Die Worte dringen tief ein in sein Inneres, berühren Wunden seiner Seele. Sehnsucht lebt auf. «Also, wenn das wahr ist ...» Der Mann rappelt sich auf und geht auf den Sprecher zu, der jetzt wieder in der Gruppe steht. Auf Russisch spricht er den Christen an.

Dieser fällt aus allen Wolken. Sollte Gott tatsächlich seine wenigen Sätze gebraucht haben? Als er zuvor vom Pastor aufgefordert wurde, in Russisch zu sprechen, war er ungläubig zurückgetreten: «Warum das denn? Hier und jetzt?» Doch dann hatte er sich einen Ruck gegeben. Und jetzt? Jetzt steht vor ihm ein Mensch, den diese kurze, aber so gute und kräftige Rede «auf die Beine gebracht hat». Ein Mensch, der zutiefst nach Gott fragt. Mitten auf dem betriebsamen Bahnhofsvorplatz wird aus dem Gespräch der beiden Männer nun ein Neuanfang, ein Heilwerden, ein Start mit und für Jesus, den Retter der Welt.

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Jetzt vor Weihnachten erinnert mich diese Geschichte, die mir ein befreundeter Pastor mit leuchtenden Augen erzählte, an Gottes Einsatz in Bethlehem. Mit Verachtung und Furcht wurden die Hirten damals angesehen. Das emsige Leben im Ort lief an ihnen weitgehend vorbei. Doch dann kommt ganz überraschend die Gegenwart Gottes, die Herrlichkeit Gottes, gerade zu ihnen – und leuchtet ihr Dasein aus. Worte werden gesprochen. Worte, die in ihnen «zünden». Worte, die sie auf die Beine bringen: «Euch ist heute der Retter geboren!» (Lukas 2,11). Sie gehen und sehen. Es ist wirklich wahr! Unbeachtet von vielen, aber ganz klar für sie.
Und dann werden sie zu Botschaftern des Weihnachtsgeschehens, «verbreiten das Wort» (Lukas 2,17). Gehört, gesehen, erlebt. Aber es bleibt nicht beim gemütlichen Erfahrungsaustausch, sondern sie starten eine Bewegung, die bis heute anhält. Eine Bewegung von «Wortverbreitern», von «Goodnewsern» (Gutbotschaftern). Menschen, die nicht beim internen Erfahrungsaustausch sitzen bleiben, sondern einen «Mutausbruch» wagen, sich auf den Weg zu anderen machen – und z. B. am Bahnhofsplatz in Deutschland eine kurze Rede in Russisch halten und erleben, dass diese alte Weihnachtsbotschaft auch heute Menschen «auf die Beine bringt», sie in die Gegenwart Gottes führt. Und dann wird «Christ, der Retter ist da!» – diese letzte Zeile aus dem Lied «Stille Nacht» – mitten im Tag zur persönlichen Lebenserfahrung.

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In mir wächst ein Sehnen. Gerne möchte ich den Hirten folgen, aus der Jesusbegegnung heraus ein Wortverbreiter sein. Russisch kann ich nicht, als wirksamer Bahnhofsplatzredner sehe ich mich auch nicht. Aber die Weihnachtswirklichkeit zur Sprache bringen – das möchte ich. Und wenn ich zumindest die Worte anderer gebrauche, z. B. durch ein Buch oder eine Weihnachtskarte, die ein gutes Wort von Gott enthält.

Artikel aus ethos 12/2019.