– Wenn die Kinder aus dem Haus gehen.
Roswitha Wurm
20. Juli 2020

«So, jetzt noch den Schreibtisch im Umzugswagen verstauen, dann haben wir es geschafft!» Ich warf einen Blick zurück in mein Mädchenzimmer, das völlig leergeräumt war. In diesem Moment trafen sich mein Blick mit dem meiner Mutter. Sie sagte nichts, ihre Augen aber sprachen deutlich, wie sehr es sie schmerzte, dass nun auch ihre jüngste Tochter das Zuhause verliess. Heute, dreissig Jahre später, erinnere ich mich noch immer genau an diesen Moment und verstehe meine mittlerweile verstorbene Mutter besser als je zuvor. Nun wiederholt sich alles, doch jetzt bin ich nicht mehr das Kind, das aus dem Haus geht, sondern die Mutter, die zurückbleibt ...

Irgendwann kommt der Tag und das letzte, mittlerweile erwachsene Kind verlässt das Zuhause. Aus einem Mehrpersonenhaushalt wird wieder ein Zweier- oder mitunter ein Einzelhaushalt.

So sehr man sich auch darauf vorbereitet, es trifft Eltern, insbesondere Mütter, dann doch mitten ins Herz. Viele Jahre, oftmals jahrzehntelang, hat man den Kindern einen Grossteil seiner Zeit gewidmet: sie gefüttert, gewaschen, in den Schlaf gewiegt, mit ihnen gespielt, sie in den Kindergarten und in die Schule gebracht, sie in Krankheitszeiten betreut, ihnen vorgelesen, mit ihnen gelernt, geübt, sie zu Nachmittagsterminen chauffiert, ihre Freunde und Freundinnen empfangen, mit ihnen den ersten Liebeskummer durchgestanden, mit ihnen gelacht und geweint und sie in allen Zweifeln und Fragen über Gott und die Welt begleitet. Und plötzlich hat der Lebensfilm einen Cut. Mit dem letzten Möbelstück und dem letzten Karton aus dem Kinderzimmer geht ein grosser Lebensabschnitt zu Ende. Unwiederbringlich und endgültig – fast ein bisschen wie Sterben.

Tragödie oder Neuanfang?

Das «Empty-Nest-Syndrom» beschreibt die Krisensituation, die auftritt, wenn Kinder alters- oder ausbildungsbedingt aus dem elterlichen Lebensbereich wegziehen. Meist trifft es Frauen in der Zeit um die 50, wo körperliche Umstellungen stattfinden, die eine depressive Lebenseinstellung begünstigen. Das Empty-Nest-Syndrom kann der Vorläufer eines Abhängigkeitssyndroms sein. Um mit dem Schmerz fertigzuwerden, greifen manche Betroffene zu Alkohol oder Medikamenten. Soweit die Definition amerikanischer Soziologen, die diesen bis heute gebräuchlichen Begriff in den 60er-Jahren geprägt haben.

Die Forscherin Elizabeth Bates Harkins schrieb Anfang der 70er, das Syndrom setze nach dem Auszug des letzten Kindes ein und dauere anderthalb bis zwei Jahre. Familienforscher wie Georgios Papastenfanou differenzierten den Begriff aus. Er spricht vom «Pre-Empty-Nest», wenn der Ablösungsprozess zu Hause beginnt, vom «Partial-Empty-Nest», wenn die Kinder in der Nähe studieren und am Wochenende nach Hause kommen, und vom «Post-Empty-Nest», wenn sie ganz ausgezogen sind. Entwicklungspsychologisch zählt der Auszug des Kindes zu den normalen Übergängen im Leben.

Bei Vätern fällt dieses Ereignis häufig zusammen mit dem Ende ihrer eigenen beruflichen Karriereleiter. Sie sind im Begriff, sich langsam aus dem Berufsleben zurückzuziehen, und hätten jetzt endlich mehr Zeit für die Familie. Verwundert stellen sie fest: Die Kernfamilie zuhause gibt es gar nicht mehr. Dabei werden Väter oft weniger von Trauer über den Verlust der Kinder geprägt, als eher von der Trauer über die scheinbar verpasste Chance, mit ihnen Zeit verbracht zu haben. Aus diesem Grund kümmern sie sich später oft besonders aufmerksam um ihre Enkelkinder.

Gleichgültig, in welcher dieser Empty-Nest-Phasen man gerade steckt, eines ist klar: Auch christliche Mütter und Väter bleiben vor dem Schmerz nicht verschont, wenn die Kinder ausziehen. Eltern fürchten diesen Tag, auch wenn sie ihn meist verdrängen, bis es plötzlich so weit ist.

Die amerikanische Autorin und mehrfache Mutter Jill Savage schreibt aus eigener Erfahrung: «Wenn es dir wie den meisten Müttern ergeht, dann schwankst du zwischen Trauer und Freude. Du siehst Unerledigtes, Hoffnungen haben sich zerschlagen und vieles bereust du. Die Zeit, wenn die Kinder aus dem Haus gehen, kann sehr verwirrend sein, aber sie kann auch die beste Zeit deines Lebens werden!»

Standortbestimmung

Wichtig ist in jedem Fall, eines zu bedenken: Der Sohn oder die Tochter sind nicht gestorben. Sie leben, und ein Kontakt bleibt in den meisten Fällen bestehen. Diese Fakten nehmen der Situation die Dramatik. Es ist keine Tragödie, sondern ein ganz normaler Entwicklungsschritt. Und vor allem ein Grund zum Dankbarsein!

Wie schön ist es zu wissen, dass die Kinder, in die man so viel Zeit, Kraft, Energie und Gebet investiert hat, zu selbständigen jungen Menschen herangewachsen sind. Das ist nicht selbstverständlich. Manche Eltern wünschten sich, dass ihre herangewachsenen Söhne und Töchter emotional oder körperlich gesund genug wären, um ein eigenständiges Leben zu führen.

Wenn Eltern Schuldgefühle plagen, weil sie meinen, manches versäumt zu haben, dann dürfen sie diesen Kummer im Gebet vor Jesus bringen. Er vergibt, wo sie schuldig geworden sind, und er tröstet, wo alte Wunden durch den Auszug aufbrechen. Er weiss, dass Eltern grundsätzlich nur das Beste für ihre Kinder wollen. Dieses Wissen macht es ein bisschen leichter, die Sprösslinge ziehen zu lassen, wenn sie flügge geworden sind. Dennoch stellt sich für alle Eltern die Frage:

Wie geht es jetzt weiter, nachdem die Kinder ausgezogen sind?

Lesen Sie den ganzen Artikel in ethos 07/2020.