Seine Vergangenheit bezeichnet er als katastrophal. Wie soll da die Zukunft anders werden? Im Interview erzählt Sven Barth seine Geschichte.
Interview: Daniela Wagner
1. Januar 2024

Lieber Sven, du hast in deiner Jugend ein ziemlich extensives Leben geführt. Trotzdem, so sagst du, spürtest du eine Leere in dir. Am Tiefpunkt deines Lebens bist du Jesus Christus begegnet. Erzähl doch mal.

Wenn ich abends von einer Party nach Hause kam, allein war in der Stille nach dem Rummel, fühlte ich mich depressiv, freudlos – alles schien so gleichgültig. Das ging lange so. Aber ich hatte mir vorgenommen, bevor alle Stricke reissen, gehe ich in eine Kirche und vertraue mich dem Pfarrer an. Irgendwie zog es mich dorthin, ich weiss nicht warum. Seltsam ist auch, dass ich in dieser Zeit ein Bild vor Augen hatte, wie ich eines Tages mit dem Auto alte Freunde besuche, den Kofferraum öffne und Bibeln verteile. Ich konnte das nicht einordnen, denn mit dem christlichen Glauben hatte ich damals nichts am Hut.

Aus der Schule und dem Konfirmandenunterricht kannte ich ein paar Geschichten aus der Bibel. So zog ich an diesem Abend zu Hause eine Sportlerbibel aus dem Regal. Wie sie dorthin gekommen war, weiss ich nicht mehr. Damit ging ich zum Grab meiner Grossmutter. In der einen Hand die Bibel, in der anderen eine Flasche Wein – und ich begann zu lesen. Die Bergpredigt und die praktischen Aufforderungen von Paulus in Römer 12, wo von gelebter Liebe, Hingabe, dem Tun des Willens Gottes als Antwort auf seine Gnade die Rede ist, sprachen mich direkt an.

Schon immer habe ich viel gelesen, ungewöhnlich für das soziale Umfeld, in dem ich aufgewachsen bin. Jetzt las ich mit grossem Hunger in der Bibel und verstand plötzlich, was Jesus am Kreuz für mich getan hatte. Hinten in der Bibel stand ein Übergabegebet. Ich betete es in meinem Zimmer, ganz für mich allein. Es geschah nichts. Keine besonderen Gefühle. Also betete ich es noch einmal – wieder nichts ...

Aber das war der Startschuss für ein Leben in der Nachfolge Jesu. Das war meine Bekehrung und irgendwann merkte ich: Ich brauche andere Christen. Gott will, dass wir uns gemeinsam zu ihm hin versammeln. So machte ich mich auf die Suche nach einer christlichen Gemeinde.

War dein Leben erst als Jugendlicher schwierig? Was für eine Kindheit hattest du?

Meine Kindheit war sehr herausfordernd. Ich lernte meinen Vater nie kennen. Leider waren die Lebensabschnittspartner meiner Mutter sehr einschlägige Typen, meist vorbestraft und gewalttätig. Mein jüngerer Bruder und ich wuchsen mit viel häuslicher Gewalt auf, vor allem gegen unsere Mutter, Möbel und zum Beispiel unsere Haustiere. Die wurden auch manchmal mit dem Messer bearbeitet ... es war einfach nur schrecklich. In unserer Wohnung wurde viel gefeiert.

Wir lebten in einem sozialen Brennpunkt, in einem schwierigen Umfeld. Kaum eine Familie war normal. Entweder war der Vater oder die Mutter weg, die Eltern Alkoholiker, einige vorbestraft.
Ich war ungefähr fünfzehn, als ich das erste Mal mit Haschisch und Gras zu tun hatte. Ein Kollege hatte es seiner Mutter geklaut. Zuerst nahm ich es aus Neugierde, später, um mich zu betäuben, damit ich diese Art von «Normalität» nicht in vollem Umfang mitbekomme.

Hattest du Sehnsucht nach einer intakten Familie?

Ich glaube nicht, denn in meiner Umgebung gab es so etwas nicht. Aber schon als kleiner Junge fragte ich mich: Ist das das Leben? Diese Gewalt, diese Partys bei uns, dieses Nichtgeborgensein? Es muss doch etwas Grösseres geben, das kann nicht alles sein!

Innerlich streckte ich mich nach Menschen aus, die mich aufnahmen und bei denen ich Liebe erfuhr, aber die gab es nicht. Meine Grossmutter war mein einziger Zufluchtsort. Bei ihr war ich oft, wenn es zu Hause wieder heiss zuging, sie wohnte in der gleichen Stadt.

Schon früh wurdest du mit dem Tod konfrontiert, Kollegen von dir starben an Drogen. Hast du dir Gedanken über den Tod gemacht, hattest du Angst vor dem Sterben?

Ja, schon als kleiner Junge. Wir wohnten in einem Hochhaus im 12. Stock. Wenn es bei uns so desolat zuging wie eben beschrieben, bin ich manchmal auf den Balkon hinausgegangen. Da stand ich dann im Dunkeln und dachte, wenn ich jetzt sterbe, dann hat das alles keinen Sinn. Ich hatte Angst vor dem Tod, diese Fragen beschäftigten mich, aber ich fragte nie jemanden danach.

Ich versuchte, mir die Antworten selbst zu geben und holte Bücher aus der Stadtbibliothek. Oft ging ich dorthin, um zu lesen, ich war eine richtige Leseratte. Für die anderen war ich ein Sonderling.

In der Schule fehlte ich viel, weil wir immer wieder unter anderem vor den Partnern meiner Mutter ins Frauenhaus flüchten mussten. Trotzdem war ich bis zur 7. Klasse ein Musterschüler, wurde ausgezeichnet, war Klassensprecher – das war in meinem Kontext schon etwas Besonderes.

Später, mit 15, als Drogen wie Extasy, Speed, LSD und starke Beruhigungstabletten ins Spiel kamen, verlor ich auch schulisch den Boden unter den Füssen. Mit 16 Jahren nahm ich das erste Mal Heroin.

Freunde starben weg, manche bekamen Neurosen, ich entwickelte schlimme Panikattacken ... das machte mir Angst und ich wurde etwas zurückhaltender, aber ganz von den Drogen weg kam ich nicht, ich war süchtig, kurz vor der Nadel. Aber dann setzte sich mein Freund den goldenen Schuss, das war wie ein Augenöffner. Ich merkte, das ist kein Spass mehr.

Wie ging es weiter?

Ich jobbte als Hausmeister, arbeitete bei Umzugsfirmen und dergleichen. Der Drogenkonsum war nicht mehr so exzessiv, das Feiern schon.

Als Kind wollte ich immer zur Polizei, für Gerechtigkeit sorgen. Wegen eines Kreuzbandabrisses hatte ich dort keine Chance mehr. Gerne hätte ich auch studiert und wäre Anwalt geworden, aber das war für mich utopisch.

Woher kam dieses Verlangen, sich für Gerechtigkeit einzusetzen?

Wahrscheinlich dadurch, weil ich mitansehen musste, wie Männer meiner Mama immer wieder Gewalt antaten und es keine Hilfe, keine Lösung für dieses Dilemma gab. Niemand wurde zur Verantwortung gezogen.

Lesen Sie das ganze Interview in ethos 01/2024