– ein Trugschluss!
Daniela Wagner
13. April 2020

Motiviert, den Menschen von der Liebe Jesu zu erzählen, reiste David Rivera von Kontinent zu Kontinent – mit «im Gepäck» als hartnäckiger, unwillkommener Begleiter seine gequälte Seele. Er hat erfahren: Die «Zeit» heilt gebrochene Knochen, nicht aber gebrochene Herzen.

David, du bist in Kolumbien aufgewachsen, deine Eltern mussten fünf Kinder durchbringen. Doch nicht die Armut, sondern tiefe Verletzungen waren es, die dir bis weit ins Erwachsenenalter schwer zu schaffen machten …

David Rivera: Ich war gerade mal acht Jahre alt, als mich mein Vater ohne Erklärung zu einer Tante fuhr, wo ich drei Jahre blieb. Dass mich meine Eltern weggaben, schrieb ich meiner Kinderlähmung zu. Offenbar wollten sie keinen schwächlichen Sohn. Meine vier anderen Geschwister durften bei Mama und Papa bleiben.

Während dieser Zeit missbrauchte mich einer meiner Cousins immer wieder. Er drohte, mich umzubringen, würde ich jemandem davon erzählen. So schwieg ich und verschloss meinen Schmerz in meinem Innern.

Gut erinnere ich mich an den Tag – ich war ein Jahr fort von zuhause –, als mein Vater mich besuchte. «Jetzt nimmt er mich mit», dachte ich. Doch er fuhr ohne mich heim. Weder hatte ich mich ihm anvertraut, noch hatte er mir gesagt, weshalb er mich hierliess. Inzwischen weiss ich, dass mich meine Eltern nicht ablehnten, sondern dachten, ich hätte es da besser, denn wir waren sehr arm.

Du sprachst von Kinderlähmung …

Ja, mit drei Jahren diagnostizierten die Ärzte Kinderlähmung bei mir. Ich konnte nicht mehr laufen. Sie erklärten, die Krankheit habe bei den Füssen angefangen und würde sich weiter ausbreiten, sodass ich bald im Rollstuhl sässe. Meine Eltern flehten immer wieder verzweifelt zu Gott, er möge mich heilen.

Noch sehr präsent sind mir die Schmerzen, die ich in der Physiotherapie aushalten musste. Die Therapeuten versuchten mich mit kleinen Belohnungen zu trösten, doch die Stromschläge waren schrecklich.

Drei Jahre später konnte ich wieder gehen, die Krankheit war unterhalb des Knies zum Stillstand gekommen – eine Gebetserhörung und ein Wunder, auch dass Ärzte meine Behandlung kostenlos durchführten, weil wir kein Geld besassen.

Heute noch kann man sehen, dass die Muskeln des linken Beins infolge der Kinderlähmung nicht so entwickelt sind und der linke Fuss viel kleiner ist als der rechte. Aber Gott sei Dank kann ich ohne grössere Probleme gehen. Fussball spielen, mit anderen Kindern herumrennen lag nicht drin. Ich war ein Aussenseiter. «Du bist nicht normal», riefen sie mir jeweils zu.

Die Schuld gab ich meinen Eltern: für die Schmerzen, denen ich jahrelang ausgesetzt war, dass ich nicht «normal» war, sie mich – nach meinem Empfinden – ablehnten, mich weggegeben hatten und ich bei der Tante diesem Peiniger ausgesetzt war. Wie jedes Kind hätte ich mir Geborgenheit, Verständnis und Schutz gewünscht. Stattdessen fühlte ich mich einsam, von allen verlassen und verraten.

Dein Vater holte dich nach drei Jahren wieder nach Hause …

Genau, ohne Erklärung hatte er mich abgegeben und wieder zurückgenommen. Einfach so. Ich war voller Wut und wollte nicht bei den Eltern sein, rebellierte, wo ich konnte. Schlimm war, dass auch hier sich ein Mann an mir verging. Ich konnte mich nicht wehren.

Inzwischen besuchte ich die Sekundarschule. Wie jeder Teenager wollte ich dazugehören. Doch mein Vater war Pfarrer in einem total katholischen Umfeld. Nachts flogen Steine auf unser Hausdach. Wieder erlebte ich Ablehnung und klagte meinen Vater an: «Papa, warum bist du Pfarrer?!» Ich lebte in einem riesigen Spannungsfeld.

Zwar glaubte ich an Jesus und versuchte meinen Glauben zu leben, doch es war schwer. Ein anderer Mitschüler (wir waren die einzigen Jesus-Nachfolger) hatte wenigstens den Mut, Jesus zu bekennen. Wie hätte ich mir gewünscht, auch so zu sein! In den folgenden Jahren entfernte ich mich von Jesus und suchte in der Welt nach Anerkennung.

Deine Zerrissenheit, dein Hunger nach Gott wurden jedoch immer grösser …

Ja, es war an einer Konferenz in Bogotá, als Jesus Christus mich anrührte. Seine Liebe zu mir, die er am Kreuz bewiesen hat, brannte tief in meinem Herzen. Ich wusste, mein Leben hatte nur Sinn, wenn ich an seiner Hand ging und ihm diente. Inzwischen 24 Jahre alt, entschloss ich mich, fortan nicht mehr für mich zu leben, sondern Jesus nachfolgen – komme, was wolle.

So kehrte ich zurück und gab meinen Kollegen und ungläubigen Verwandten Zeugnis von Jesus und dass ich ihm in der Mission dienen wolle. Ich brach radikal mit meinem gottlosen Wandel. Für die Kollegen war ich uninteressant geworden. Mir war klar, dass ich an ihnen keinen Auftrag hatte und ich zuerst in meiner Beziehung zum Heiland wachsen, mein Leben sich als «echt» bewähren musste. Verwandte kamen ins Nachdenken, weil sie sahen, dass ich in Jesus Christus zufrieden war und ihn besser kennenlernen wollte.

Du hast von deinem Ruf in die Mission erzählt. Wie schwer war es, das Land zu verlassen, dein Sprachstudium abzubrechen und die Freundin aufzugeben, weil sie diesen Weg für sich nicht sah?

Gott ebnete und bestätigte meinen Weg durch viele «kleine» Wunder. Zum Beispiel wäre ich nicht ohne den Segen meiner Mutter gegangen. Anfangs sträubte sie sich dagegen. Ich bat Jesus, einzugreifen, damit ich in Frieden losziehen konnte. Eines Tages überraschte sie mich mit einem Koffer, den sie für mich gekauft hatte, und meinte: «Du darfst gehen.» Und einen Tag vor der Abreise fehlten noch immer 300 Dollar, damals sehr viel Geld, worauf jemand mir ein Kuvert überreichte mit exakt diesem Betrag drin.

Trotz der Freude, dem Ruf Gottes zu folgen, kämpften zwei Wünsche in meiner Brust gegeneinander: Einerseits sehnte ich mich danach, sterben zu dürfen, um Jesus zu sehen und meinen Seelenschmerz los zu sein. Andererseits drängte es mich, den Menschen die Frohe Botschaft zu bringen. Ihre Hoffnungslosigkeit ohne Jesus liess mich nicht kalt.

Rückblickend war es ein Segen, dass Gott mich rausgenommen hat, denn er musste an mir arbeiten. Er hat einen wunderbaren Plan mit unserem Leben und jede Kleinigkeit im Blick.

Du warst rund um den Erdball unterwegs. Nach aussen ganz Latino, stets ein Lachen auf dem Gesicht – aber in deinem Herzen sah es anders aus …

1995 flog ich zurück nach Kolumbien. Ein Cousin, der mir so viel Leid zugefügt hatte, war an Krebs gestorben. «Du hast mir weh getan, und jetzt bist du dran gestorben, tot!», dachte ich und erschrak zugleich über die Wut in mir.

Ja. Da war der Schmerz in mir und die Bitterkeit andern gegenüber, die ich festhielt. Auch mein körperliches Gebrechen, das ich nicht akzeptieren wollte.

Ein Freund erkannte meine Zerrissenheit und sagte: «Du bist ein Clown, überspielst deine Not. Du brauchst Hilfe!» Er drohte mir sogar mit Konsequenzen für meinen Dienst, würde ich das nicht angehen. «In Jesus kannst du echte Heilung, Freiheit erleben ...» Ich wusste, er hat recht. So vertraute ich mich jemandem an und suchte Hilfe.

Was hat dir geholfen?

Jesus hat mir die Augen geöffnet. Ein Seelsorger gab mir einen grossen Stein. Ich sollte ihn halten. Nach einer Weile sagte ich: «Der ist zu schwer, ich kann nicht mehr!» «Schau», antwortete er, «Jesus möchte dir deine Last abnehmen. Gib sie ihm!» Ich wusste genau, was «mein Stein» war! Mir war schmerzlich bewusst, dass ich all das mir zugefügte Leid nicht vergeben und die Bitterkeit in meinem Herzen aus eigener Kraft nicht loslassen konnte.

Zudem erkannte ich: Ich bin nicht nur Opfer, sondern auch Täter. Jeder Verletzte verletzt auch seine Nächsten. Wie hatte ich gegen meine Eltern rebelliert, sie angeklagt und ihnen damit weh getan!

Was heisst für dich «jemandem vergeben»?

Meine Motivation zu vergeben, gründet auf dem, was Jesus Grosses an mir getan hat. Seine Liebe hat mich überführt! Er, der unendlich viel mehr erlitten hat als ich, der Mann der Schmerzen, hing am Kreuz für mich – damit ich frei werden konnte von aller Schuld.

Wir müssen uns entscheiden, zu vergeben. Aus eigener Kraft schaffen wir das nicht, aber mit Gottes Hilfe. So werden wir die Last los und werden ein Segen für andere. Im Kolosserbrief heisst es: «Geschwister, ihr seid von Gott erwählt, geliebt, darum kleidet euch nun in tiefes Mitgefühl, in Freundlichkeit, Rücksichtnahme und vergebt einander, wie der Herr auch euch vergeben hat. Zu diesem allen aber zieht die Liebe an, das Band, das euch zusammenhält.» Die Liebe ist der Schlüssel. Am Kreuz kann ich Gottes Liebe sehen.

Lesen Sie das ganze Interview in ethos 04/2020.