Die Vermessung der Psychiatrie
Yvonne Schwengeler
1. Juni 2024

Ein Betrunkener kniet längere Zeit suchend auf dem Boden neben einer Strassenlaterne. Kommt ein Passant vorbei und fragt: «Suchen Sie etwas?» – «Ja, ich habe meinen Schlüssel verloren!» Der Passant hilft dem Betrunkenen suchen, doch sie finden den Schlüssel nicht. Nach einer Stunde fragt der Passant: «Sind Sie sicher, dass Sie den Schlüssel hier verloren haben?» Der Betrunkene antwortet ihm: «Nein, ich habe ihn wohl irgendwo dahinten verloren, aber hier gibt es einfach mehr Licht!»

Diese Anekdote entlockt uns ein Schmunzeln. Ich fand sie in der Einleitung eines aufschlussreichen Buches aus dem säkularen Raum: «Die Vermessung der Psychiatrie. Täuschung und Selbsttäuschung eines Fachgebiets». Der Autor, Stefan Weinmann, ist Psychiater und Psychotherapeut. In seinem Buch geht er, wie schon andere seiner Zunft, hart ins Gericht mit der Praxis seines Fachgebietes, wenn er schreibt:

«Die Psychiatrie ist vermessen – nicht nur wie sie sucht oder neurowissenschaftlich oder psychologisch forscht, sondern vor allem, wenn sie die Halb- oder Unwahrheiten, die sie zutage fördert, für bare Münze nimmt, wenn sie die Ergebnisse als direkt anwendbare wissenschaftliche Ergebnisse begreift sowie teilweise vermarktet, ohne die Grenzen ihrer Methodik in Rechnung zu stellen ... Die Art der Vermessung von psychisch Kranken kann am sozialen Subjekt vollständig vorbeizielen und selbst zum schädlichen Agens (krank machenden Faktor, Red.) werden, und zwar vor allem, wenn sie zu biologischen (in der Regel medikamentösen) Therapieversuchen führt, die wie Schrotflintenschüsse in das Gehirn zielen und den Blick auf die psychischen und sozialen Konflikte hinter den Symptomen verstellen» (S.15).

Krankes Hirn?

Seit Jahrzehnten gehen Psychiater von einer starken genetischen Belastung oder zumindest einer krankhaften Veränderung des Gehirns als Ursache für schwere psychische Erkrankungen aus. Es ist jedoch zu bedenken, dass auch körperliche Erkrankungen «Störungen» des Hirns sind, weil das Gehirn als Übersetzer in den Körper fungiert. Das Gehirn als das Organ zu bezeichnen, das bei psychischen Krankheiten erkrankt, so wie die Niere erkranken kann, sei eine Selbsttäuschung der Psychiater, so Weinmann. Alles ist psychosomatisch, und für alles gibt es eine Mitverantwortung im Zusammenleben. Ein Medikament kann im besten Fall helfen, die Stimmung aufzuhellen, ist aber letztlich nur eine Symptombehandlung.

Persönliche Schicksalsschläge, Traumata oder schwierige Lebensumstände werden in der Psychiatrie allenfalls als Nebenschauplätze, als Auslöser oder «Trigger» anerkannt. Von sündigem Verhalten und Schuld ganz zu schweigen.

Obwohl die biologische Psychiatrie unendlich viele Details im Gehirn misst, wird wenig Verwertbares gefunden. Trotzdem hält man hartnäckig am «Defekt im Hirn» fest. Die Psychiater hätten beispielsweise bei der Schizophrenie keinerlei objektivierbare Biomarker für die Erkrankung und würden genauso im Dunkeln tappen wie vor fünfzig Jahren.

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