Vom Schandfleck zur Touristenattraktion.
Karl Schwendener
1. Februar 2020

Was für eine Entwicklung! Erst noch stand die süditalienische Stadt als «nationale Schande» in Verruf, 1993 wurde sie «Unesco Weltkulturerbe» und 2019 zur «Kulturhauptstadt Europas» ernannt! Matera hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Schon früh siedelten hier erste Nomaden. Sie fanden in dieser Gegend Nahrung, Wasser und in den natürlichen Tuffsteinhöhlen Schutz vor Unwettern und Feinden. Seitdem war Matera durchgängig bewohnt. Neben dem syrischen Aleppo gilt sie als eine der ältesten Städte der Welt. Berühmtheit erlangte Matera durch seine «Sassi». Diese altertümlichen, in Felsen gegrabenen Höhlensiedlungen dienten zum Teil bereits vor Tausenden Jahren als Wohnraum. Im Mittelalter baute man Häuser davor. Die Höhlen im weichen Tuffstein wurden ständig neuen Bedürfnissen angepasst. So blieben Spuren von früher, die auf unterschiedliche Nutzungen hinweisen. Oft waren die Höhlen Kirchen, dann Keller mit Wein und Ölpressen, bevor sie Familien als Herbergen dienten. Die Felder lagen weit ausserhalb, die Bauern lebten in der Stadt. So mussten sie oft stundenlange Arbeitswege auf ihren Mauleseln zurücklegen.

Mit Kind und Kegel

Im 1945 erschienenen Buch «Christus kam nur bis Eboli» beschreibt der Schriftsteller Carlo Levi die Lebensumstände in der Stadt. Er schildert darin die grosse Armut und die unzumutbaren hygienischen Verhältnisse, in denen die Bevölkerung lebte. In dieser Zeit wohnten rund 15 000 Menschen in den alten Stadtteilen Sasso Barisano und Sasso Caveoso. Bis zu 15 Personen hausten in einer Grotte. Im hinteren Teil hielt man Maulesel, Ziegen, Schweine und Hühner, vorne schlief und kochte man. Die Kindersterblichkeit lag bei 50 Prozent.

Aufgrund der prekären Situation beschloss der italienische Staat in den 1950er-Jahren, alle Menschen, die sowohl in den Häusern als auch in den Höhlen der «Sassi» lebten, in extra dafür neu gebaute Viertel umzusiedeln. Die Höhleneingänge wurden zugemauert, die Sassi begannen zu zerfallen. Dagegen formierte sich in den 1960er-Jahren Widerstand, worauf man die Höhlen und Häuser fortlaufend renovierte. Auch viele Wandmalereien von Höhlenkirchen, über 1000-jährig, wurden erforscht und mussten erhalten werden.

Erfreuliche Entwicklung

Heute sind die Sassi wieder belebt und zum Anziehungspunkt Materas geworden. Moderner Lebensstil hat Einzug gehalten, von Armut ist fast keine Spur mehr zu sehen. Auch hat sich Matera zu einer Universitätsstadt entwickelt mit grossem Campus und vielen Fakultäten, die sich hier niedergelassen haben. Erfreulicherweise ziehen die jungen Leute nicht mehr weg wie früher, denn der Tourismus bietet viele neue Möglichkeiten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

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