
Johannes und Caroline Falk standen auf dem Friedhof der Stadt und trockneten immer wieder ihre Tränen. Vor ihnen klaffte ein Loch in der Erde, daneben stand ein kleiner Holzsarg.
Nur ein paar Wochen zuvor hatten Napoleons Truppen bei Leipzig eine katastrophale Niederlage gegen die Alliierten Preussen, Russland, Österreich und Schweden einstecken müssen. Auf dem Rückzug plünderten die hungrigen französischen Soldaten sämtliche Städte, die auf ihrem Weg lagen, so auch Weimar. Doch mit den Soldaten kam auch Typhus in die Stadt, den die Menschen Nervenfieber nannten. Die Seuche hatte tags zuvor bereits das vierte der sieben Falkkinder hinweggerafft.
Gerade las der Pfarrer einen Abschnitt aus der Bibel vor: «Jesus spricht: Ich bin die Auferstehung und das Leben.Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben.»
«Amen», murmelten das Ehepaar Falk und ihre restlichen drei Kinder.
Die Totengräber liessen den Sarg in die Erde hinab. Caroline klammerte sich noch fester an ihren Mann. Johannes versuchte, stark zu sein. Doch er konnte nicht verbergen, dass seine Hände zitterten.
«Von der Erde sind wir genommen», fuhr der Pfarrer fort, «zur Erde kehren wir wieder zurück. Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.»
Mit tränenerstickter Stimme sprachen alle das Vaterunser und der Pfarrer segnete die Trauerfamilie. Danach ging er ein paar Meter weiter, wo schon die nächste Bestattung auf ihn wartete.
Johannes und Caroline Falk schauten stumm den Totengräbern zu, wie sie Schaufel um Schaufel das Grab zuschütteten. Etwas in ihrem Inneren war zerbrochen.
Nur wenige Tage später bekam Johannes Falk Kopfschmerzen. Bald packte ihn ein hohes Fieber und er lag nur noch schwach im Bett.
Der Doktor konnte ihm nicht helfen. «Das Nervenfieber», erklärte er Caroline und zuckte mit den Schultern, «da hilft nur noch beten.» Also betete Caroline und erneuerte nebenbei regelmässig die nassen Lappen, die sie auf den Körper ihres Mannes gelegt hatte.
Johannes spürte, wie die eisige Hand des Todes nach ihm griff. «Gott, wo bist du?», röchelte er in der Nacht. «Du bist doch der allmächtige Vater! Erbarme dich und heile mich!» Er merkte gerade noch, wie Caroline seine Hand nahm. Dann wurde es dunkel um ihn.
Licht umflutete Johannes. So hell, dass es ihm Mühe machte, die Augen zu öffnen. War er im Himmel? Nein, wohl eher nicht. Langsam erkannte er die Stube, in der er lag. Die Wintersonne schien durchs Fenster herein. Auf dem Nachttisch standen eine Schüssel mit Wasser und ein Stapel Tücher. Dem Geklimper nach zu urteilen, übte eines seiner Kinder gerade Klavier im Nebenraum. Langsam setzte er sich auf, sein Kopf dröhnte. Schon eilte Caroline zu ihm.
«Gott sei Dank!», rief sie aus. «Ich bin so froh, dass du noch lebst.»
Johannes sammelte sich. «Ich dachte, ich müsse sterben», murmelte er. «Gott hat mich bewahrt.»
«Du sahst wirklich elend aus. Wir alle haben dich schon aufgegeben. Gott muss etwas Besonderes mit dir vorhaben, dass er dir erneut das Leben schenkt.» Caroline setzte sich auf den Hocker, der neben dem Bett stand. Sie sah aus, als wenn ihr die Last eines Berges abgenommen worden war.
Johannes schwieg einen Moment. Mit einem Mal war die Trauer über seine verstorbenen Kinder wieder da. Warum durfte er leben und sie nicht? Noch während er darüber grübelte, kam ihm ein neuer Gedanke.
«Weisst du, Caroline», begann er, «ich glaube, es gibt viele Eltern, die wie wir ihre Kinder verloren haben. Aber es gibt auch unzählige Kinder, die niemanden mehr haben, der sich um sie kümmert. Napoleons Soldaten und das Nervenfieber haben sie zu Waisen gemacht. Ich habe Mitleid mit ihnen. Es ist, als ob Gott mich drängt, für diese armen Kinder da zu sein.»
«Johannes, Waisen können unsere Kinder nicht ersetzen», flüsterte Caroline.
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