
Eine Kindheit, wie wir sie in den 90er-Jahren erlebten, ist heutzutage für die meisten Kinder in Städten und Vororten sehr weit von der Realität entfernt. Eltern bevorzugen es, ihren Nachwuchs in professionelle Obhut zu geben oder zu Hause mit digitalen Medien zu beschäftigen.
Im letzten Jahrzehnt haben Gesundheit und Leistungsfähigkeit bei Kindern und Jugendlichen in fast allen Bereichen abgenommen. Die psychische Gesundheit der jungen Generation ist so stark beeinträchtigt, dass von einer Krise gesprochen wird: Autismus und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) werden häufiger diagnostiziert, Ängstlichkeit und die Suizidrate bei Jugendlichen steigen an. Depressionen haben sich bei 15- bis 19-Jährigen in Deutschland im Zeitraum von 2009 bis 2017 verdoppelt. Auch die kognitiven Leistungen sind beeinträchtigt. Der Intelligenzquotient nimmt in den westlichen Staaten ab, und laut PISA-Studie werden Lese- und Rechenfähigkeiten schlechter.
Die Ursachen dafür sind bisher nicht vollständig verstanden, aber da diese Entwicklungen so rasant voranschreiten, geraten Umweltfaktoren der letzten 10 bis 15 Jahre in den Blick: Das Internet wurde um die Jahrtausendwende für den Normalbenutzer zugänglich, kurz darauf entstanden die grossen Social-Media-Plattformen. Das iPhone wurde 2007 vorgestellt, 2010 führte man die Frontkamera für Selfies ein.
Der Anteil der 12- bis 19-Jährigen in Deutschland, die ein Smartphone besitzen, beträgt über 90 %. Heute hat sogar fast die Hälfte der 6- bis 13-Jährigen ein eigenes Smartphone. Und obwohl die noch jüngeren Kinder meistens über kein eigenes Gerät verfügen, sind auch sie täglich digitalen Medien ausgesetzt. Manche Eltern halten es für eine gute Idee, die Kinder bereits im Alter von wenigen Monaten mit ihrem Handy zu «beruhigen» – oder besser gesagt zu sedieren.
Wieso sind digitale Medien so erfolgreich?
Die ständige Verfügbarkeit eines sofort einsatzbereiten Geräts in der Hosentasche ohne Nutzungshürden ist ein verlockender Grund dafür, dass Eltern es in herausfordernden Situationen als Babysitter verwenden und bereits Säuglingen und Kleinkindern anbieten. Die Wahrnehmung anderer Eindrücke – auch negativer – nimmt messbar ab. Es funktioniert hervorragend als «Stillhalter». Wird dem Kind der Bildschirm angeboten, können sich die Erwachsenen plötzlich in Ruhe unterhalten. Diese positiven Erfahrungen üben auf beide Seiten einen starken Wiederholungsreiz aus.
Wenn Kinder selbstständig beginnen, mit Smartphones und Tablets zu interagieren, haben sie bei digitalen Geräten ein intensives, unmittelbares Erleben und nur ein geringes Frustrationsrisiko. Während beim Spielen mit Bausteinen der Turm immer wieder bei Ungeschicklichkeit zusammenfällt, rufen die intuitiv gestalteten Basisfunktionen von Smartphone und Tablet schnelle Erfolgserlebnisse hervor.
Das digitale Spielen übt einen noch grösseren Reiz aus, weil es Erfahrung von Macht, Schönheit und Grösse bietet. Ein behüteter Alltag, der zunehmend als langweilig empfunden wird, wo Kinder natürlicherweise mit Frust, Niedergeschlagenheit und Hilflosigkeit zurechtkommen müssen, ist eine schwache Alternative. Die negativen Gefühle aus der Realität können am digitalen Gerät gut herabreguliert werden. Unangenehme Dinge werden durch digitales Erleben schnell vergessen gemacht. Dies führt zu selbstverstärkendem Verhalten. Kinder fühlen sich nur noch wohl, wenn sie vor dem Gerät sitzen.
Freies und riskantes Spiel ist gesund
In den ersten drei Lebensjahren durchläuft das kindliche Gehirn wesentliche Prozesse der neuronalen Reifung und Strukturierung. Kinder benötigen daher umfassende Gelegenheiten, sich kreativ in der dreidimensionalen Welt zu betätigen und vielfältige reale Erfahrungen mit allen Sinnen zu sammeln.
Unstrukturiertes und unbeaufsichtigtes Spiel wird neben dem Medienkonsum auch durch professionelle Betreuung und das erhöhte Sicherheitsbedürfnis der Eltern reduziert. Freies Spiel ist jedoch für die kindliche Entwicklung essenziell.
Der Drang, auf riskante Weise zu spielen, ist für Kinder entscheidend, um Mut, Selbstvertrauen und körperliche Fähigkeiten zu entwickeln. Mit diesem Wissen können sie die Herausforderungen und Notfälle des Lebens meistern. Diese Fähigkeit wird als Resilienz bezeichnet.
Lesen Sie den ganzen Artikel in ethos 06/2025