In einer Zeit, in der neun von zehn Babys mit der Diagnose Down-Syndrom abgetrieben werden, plädiert Eberhard Dahm für ein uneingeschränktes «Ja» zum Leben. Der Vater über Herausforderungen im Alltag mit Daniel und was er von ihm lernt.
Eberhard Dahm
7. Februar 2019

Eberhard und Gabi haben vier Kinder. Daniel, der Zweitgeborene, ist ein besonderes Kind: Er hat das Down-Syndrom. Die Eltern haben von der Behinderung nach der Geburt erfahren. Für sie ist Daniel ein Geschenk Gottes. Eberhard macht Mut, jedes Kind von Gott anzunehmen und mit seiner Hilfe das Leben zu meistern. Gott macht keine Fehler, davon ist Eberhard auch dreissig Jahre nach Daniels Geburt überzeugt.

Eine ganz normale Geburt

Der Tag der Entbindung rückte näher. Einen ganzen Tag brachten wir im Krankenhaus mit Treppensteigen und Spaziergängen zu. Die Wehen kamen und gingen, bis es dann endlich gegen Abend so weit war und unser zweites Kind um 0.45 Uhr geboren wurde. Ein Junge – ein Daniel. Er schrie lauthals und war putzmunter, die ersten Checks wurden gemacht. Alles war völlig normal. Meine Frau Gabi und ich beteten gemeinsam über diesem jungen Erdenbürger. Wir dankten Gott für alle Hilfe und Bewahrung und baten um seinen Segen für das Bübchen mit einem Geburtsgewicht von 2870 g und einer Grösse von 49 cm.

Ein Sorgenkind mit unerwarteten Symptomen

Ich verliess die Klinik im Morgengrauen und versuchte, ein wenig zu schlafen. Eine kurze, ruhige Nacht folgte, und wir sahen uns am anderen Tag wieder. Wie froh war ich darüber, dass alles so reibungslos verlaufen war und ich meine Frau und Daniel wiedersehen konnte. Doch kaum hatte ich meine Gabi als «Bubenmama» begrüsst, zeigte sie mir an Daniel etwas, das sie beunruhigte. Seine Hände und Füsse waren in einem dunklen, etwas bläulichen Ton gefärbt. Ich nahm den Kleinen auf den Arm und schaute mir das näher an. Es war in der Tat rätselhaft. Wir wiesen die Ärzte darauf hin. So wurde Daniel nochmals gründlich untersucht, worauf sie uns mitteilten, dass sie nichts Konkretes feststellen könnten. Zur genaueren Beobachtung und Untersuchung wollten sie ihn aber in die nächstgelegene Kinderklinik bringen lassen.

Schlimmste Befürchtungen

Schon beim ersten Besuch waren wir völlig überrascht, denn Daniel hatte sehr viele Einstiche an den Fersen. Man hatte ihn regelrecht zu Ader gelassen. Der Klinikaufenthalt dauerte länger als erwartet. Man klärte uns auch nicht darüber auf, warum Daniel noch in der Klinik bleiben musste. Es war für uns ein gewisser Aufwand, jeden Tag diese weiten Fahrten zu machen. Und für Gabi war das ja alles andere als erholsam, so kurz nach der Entbindung. Als wir endlich einen Assistenzarzt zu Gesicht bekamen – das war am vierten Tag –, fragten wir konkret nach, warum Daniel noch in der Klinik sein müsse. Immer noch hatten wir keine Klarheit, was eigentlich los war. Wir bohrten regelrecht nach Antworten. Der anwesende Arzt fühlte sich sichtlich unwohl. «Ja, hat man Ihnen denn gar nichts gesagt?», fragte er. «Nein», antworteten wir erstaunt, «was sollte man uns denn gesagt haben?»

«Ja, das ist so ...» Mit vielen langatmigen, schwer verständlichen Ausführungen, denen wir nicht so recht folgen konnten, kam er dann zu der Aussage: «... es muss eine Chromosomenanalyse gemacht werden. Bis wir das Ergebnis haben, dauert das etwa vierzehn Tage. Es besteht ein vager Verdacht auf Down-Syndrom (Trisomie 21). Aber machen Sie sich bitte keine Sorgen. Es geht im Grunde nur darum, diesen Verdacht definitiv auszuschliessen.» Da standen wir nun völlig geschockt von diesen Eindrücken und den für uns verwirrenden Aussagen. An vier Tagen waren wir hin- und hergefahren und wurden von niemandem ehrlich und offen aufgeklärt.

Aufgewühlt, betroffen und sehr betrübt standen wir an Daniels Bett. Ahnungslos schlief unser kleiner blonder Junge. Wir streichelten ihn und ich spürte, wie sich diese drohende Diagnose wie eine giftige Schlange meiner Seele bemächtigen und mich lähmen wollte. Was uns gesagt worden war, konnten wir beide nicht einfach so abschütteln. Diese Nachricht war wie die Ankündigung eines möglichen Einschlags durch einen zerstörerischen Meteoriten, der Kurs auf unser Lebenshaus genommen hatte. Würde es zum Einschlag kommen? Wenn ja, wie würden wir ihn verkraften? Was würde es für Daniel, für uns als Ehepaar und als Familie bedeuten? In solch einem Moment wird die Seele bombardiert mit tausend Fragen, die sich wie spitze, feurige Pfeile in die Seele bohren. Zuerst denkt man, das ist wie ein schlechter Film. Doch allmählich merkt man, aus dieser Vorstellung kannst du nicht einfach aussteigen. Das ist kein Film, den man abschaltet. Es ist die Realität des wahren Lebens, die dich voll und ganz in ihrem Griff hat.

Kommt der Einschlag oder nicht?

Für Gabi und mich war es völlig unmöglich, nach diesen Eindrücken direkt wieder nach Hause zu fahren. Glücklicherweise wussten wir unseren gerade mal zwölf Monate alten Benjamin bei Freunden in guten Händen, sodass wir uns die Zeit zum Gespräch nehmen konnten. Denn jetzt brauchten wir einander und wenigstens einige Augenblicke, um unsere Befürchtungen und Gedanken zu sortieren. Wir machten in einer Gaststätte Halt, sassen da und schwiegen erstmal. Dann sagte Gabi: «Warum wir, warum ausgerechnet wir?» Ich spürte ihre Angst und welch schwere Last durch die Bedrohung einer möglichen Behinderung auf ihrer Seele lag. Auch ich war von diesen Eindrücken sehr desorientiert, fühlte mich wie vor den Kopf gestossen. Aber just in diesem Moment dort in der Gaststätte wurde mir die Bedeutung des Namens Daniel wichtig. «Gott richtet», und das richtete meine Gedanken auf Gott, auf den Gott, der doch sagt: «Ich bin bei euch alle Tage.»

Gott kennen und ihm vertrauen

Da ich kurz zuvor das Buch Daniel in unserer Gemeinde unterrichtete, kamen mir Worte aus Daniel 11,32 in den Sinn, dort heisst es: «Aber das Volk, das seinen Gott kennt, wird sich stark erweisen und entsprechend handeln.» Irgendwie wurde ich plötzlich wach und recht nüchtern. So wie wenn man aus seiner Lethargie gerissen wird. Auf einen Schlag war mir klar, worum es jetzt ging, was meine Aufgabe und Herausforderung sein würde. Es ging um Gott selbst, um seine Pläne und Ziele. Um meine Beziehung zu ihm und nicht zuerst um meine Sehnsüchte und Wünsche. Nicht um theologische Theorien oder um Selbstverwirklichung, sondern um die persönliche Beziehung zu dem lebendigen Gott. Er wollte in dieser Not für uns tröstende Wirklichkeit sein. Diese Einsicht traf mich wie ein Hammer und brannte sich tief in mein Herz ein. Es war schmerzlich, aber zugleich auch sehr tröstend. Ja, die praktische Kenntnis meines persönlichen Gottes sollte die Quelle meiner Kraft sein und mir Weisheit zum richtigen Handeln geben – so wie es der Prophet Daniel im 6. Jahrhundert vor Christus geschrieben hat. Nun also war ich ein Schulanfänger in Gottes Hochschule des Lebens mit dem Kurs und Thema: «Trotz Leiden Gott anerkennen und ihm vertrauen». Eines wusste ich ganz fest: Gott weiss, was er tut, auch wenn ich es nicht verstehe.

Bedrückende Befürchtungen

Nachdem mir dies alles in wenigen Augenblicken durch den Kopf geschossen war, antwortete ich auf Gabis berechtigte Frage nach dem «Warum»: «Wenn es uns wirklich trifft, warum denn nicht uns? Wir sind als Christen doch eigentlich diejenigen, die das eher verkraften sollten. Und wir glauben doch wirklich, dass Gott hilft und dass er auch in diesen Dingen keine Fehler macht. Wenn es so kommt, dann muss es uns irgendwie zum Besten dienen.» Nun galt es also für mich, das zu leben, was ich selbst andere Menschen gelehrt hatte. Dass die Emotionen bei uns beiden durcheinander waren, lag auf der Hand. Der Arzt hatte uns erklärt, dass bis zur Auswertung der Analyse etwa vierzehn Tage vergehen würden. Wie sollten wir diese Zeit der Ungewissheit nur überstehen? Für mich, aber auch besonders für Gabi, war diese Befürchtung nach ihrer Entbindung ein ganz schwerer Schlag und eine niederdrückende Last. Ich wünschte und hatte so gehofft, meine Frau würde mehr Zeit zur Ruhe und Entspannung finden. Nachdem wir noch einige Zeit miteinander gesprochen hatten, legten wir unsere Befürchtungen im Gebet in Gottes Hände und machten uns schliesslich auf den Heimweg.

Uns trifft der Schlag

Etwa zehn weitere Tage des Wartens vergingen. Die seelische Anspannung war enorm, da wir uns Tag für Tag mit den Konsequenzen einer möglichen Behinderung auseinandersetzten. Wir waren ja völlig ahnungslos und unerfahren darin, was es bedeuten würde, ein behindertes Kind zu haben. Einige wenige meinten, uns schon im Vorfeld quasi präventiv trösten zu müssen, indem sie sagten, diese Kinder seien ja auch ganz besonders fröhliche und liebe Menschen. Solche Aussagen empfanden wir in unserer Gefühlslage als wenig hilfreich. Gabi fürchtete sich davor, alleine im Krankenhaus zu sein, wenn sie mit der Nachricht konfrontiert werden würde. Leider trat genau das ein. Ich war an jenem Tag verhindert und konnte nicht mit ihr ins Krankenhaus fahren. Dann klingelte bei uns daheim das Telefon. Gabi war dran: «Hallo Schatz ...» Sie weinte und konnte kaum sprechen. Nach einer Weile bezwang sie sich, die wohl schwersten Worte ihres Lebens auszusprechen: «Der Befund ist eindeutig, Daniel hat das Down-Syndrom.»

Grenzenlose Ohnmacht

Dieses Gefühl einer unbeschreiblichen Ohnmacht ist grausam, aber auch heilsam. Ungezählt viele Menschen kennen ähnliche Erfahrungen. Es ist die Wucht, mit der uns eine schockierende Wahrheit über das Leben erreicht, die unser Dasein für immer unwiderruflich verändert. Plötzlich merkt man, wie klein und machtlos man ist. Die eigene Begrenzung wurde mir plötzlich so deutlich. Nichts haben wir im Griff, gar nichts können wir aus eigener Macht verhindern, geschweige denn verändern. Das ist sehr demütigend und man lernt Bescheidenheit. Diese neue Realität störte mich zunächst, aber ich erfasste mehr und mehr, dass sie mein Leben nicht zerstören, sondern es verändern und umfassend prägen würde. Und tröstlich in allem war die Überzeugung, dass Gott ganz genau weiss, was er tut. Er legt uns eine Last auf, aber er hilft uns auch.

Gut beraten

Bevor wir Daniel zum ersten Mal mit nach Hause nehmen durften, führte der Oberarzt ein abschliessendes Gespräch mit uns. Wir waren positiv überrascht, dass er sich für uns kurz vor der Entlassung noch Zeit dafür nahm. Auf sehr einfühlsame Weise erklärte er noch einmal das Wesen und die möglichen Auswirkungen des Down-Syndroms. Hierbei handelt es sich um eine geistige Behinderung mit einigen typischen Einschränkungen im physischen Bereich. Wir waren froh, dass Daniel keinen Herzfehler hat, wie es bei dieser Behinderung oft der Fall ist. Der Arzt beschönigte nichts, sondern zeigte ehrlich auf, dass es kein einfacher Weg mit unserem Sohn sein würde. Mit irgendwelchen Prognosen über die zukünftige Entwicklung hielt er sich ganz zurück. Und er warnte uns vor Scharlatanen, die zu jener Zeit kostspielige Kuren mit Frischzellentherapien auch gerade für Menschen mit dieser Behinderung anboten. Er machte ganz deutlich, dass wir Daniel so annehmen sollten, wie er ist. Unvergesslich bleiben uns diese seine Worte: «Seine Behinderung ist nicht heilbar, und bei allen Therapien, die Daniels Entwicklung hilfreich unterstützen können, braucht er vor allen Dingen eines: Liebe! Lieben Sie Ihr Kind und zeigen Sie es ihm. Das ist es, was Sie ihm geben können und geben müssen. Er wird Ihnen auch viel Liebe geben.» Wie dankbar waren wir für diese klare, wegweisende Aussage! Das war kein halbherziger billiger Trost, auch nicht die Litanei eines routinierten Mediziners. Wir spürten, hier spricht ein weiser Mann mit einem grossen Herz für kleine, zarte Menschenkinder. Gabi drückte es später sehr schön aus: «Es war, als ob dieser kräftige Arzt mit seinen grossen Händen mir diesen kleinen Daniel so richtig fest an mein Mutterherz drücken würde.» Dieser tiefe Eindruck besteht bis heute. Und es ist wahr, die beste Therapie ist Liebe. Mit diesem wegweisenden Rat voller Herz und Verstand wurde Daniel unserer elterlichen Fürsorge und Obhut anvertraut. Es war plötzlich eine andere Welt für uns. Während unserer ersten gemeinsamen Fahrt im Auto wurde mir bewusst: Jetzt trage ich Verantwortung für eine Familie mit einem behinderten Kind! Nicht Aktionismus oder Geschäftigkeit waren gefragt, sondern vor allem Gelassenheit und eine Familienatmosphäre voller Liebe und erfahrbarer Geborgenheit. Ein hoher Anspruch.

Lesen Sie den ganzen Bericht mit anschliessendem Interview in ethos 02/2019.