Weshalb Vergebung für Christen keine Option ist.
Silke Berg
19. April 2020

Am 2. Oktober 2006 drang ein bewaffneter Mann in eine kleine Dorfschule der Amish-People in Pennsylvania/USA ein und nahm zehn Schülerinnen im Alter zwischen sechs und 13 Jahren als Geiseln fest. Kurze Zeit später erschoss er fünf der Schülerinnen und verletzte fünf weitere schwer. Anschliessend richtete sich der Täter selbst. Diese unfassbare Tat wurde in einem Buch und einem Film verarbeitet. Der Schwerpunkt lag dabei auf der Vergebungsbereitschaft der Amish-People, die der Witwe und den Kindern des Mörders gegenüber Vergebung übten, sie trösteten und unterstützten.

Die Reaktion dieser Menschen wurde in der Öffentlichkeit unterschiedlich bewertet, hinterliess aber einen tiefen Eindruck. Auch Sie fragen sich vielleicht angesichts dieses furchtbaren Geschehens: Wie kann jemand dem Mörder seiner eigenen Kinder vergeben?

Die Amish-People waren letztlich nur dazu fähig, weil sie selbst Vergebung von Gott erfahren hatten. So wie bei allen Menschen, die mit Jesus leben, bildete Vergebung die Grundlage ihrer Beziehungen.

In dem Gebet, das der Herr seine Jünger lehrt, heisst es: «... und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir unseren Schuldnern vergeben haben», und Jesus ergänzt: «Denn wenn ihr den Menschen ihre Vergehungen vergebt, so wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben; wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euer Vater eure Vergehungen auch nicht vergeben» (Matth. 6,12; 14–15). Deshalb ist es keine Option für einen Christen, ob er vergibt oder nicht, sondern eine direkte Aufforderung unseres Herrn – selbst dann, wenn der andere nicht um Vergebung gebeten hat.

Das bedeutet jedoch keinesfalls, dass Vergebung leichtfällt, im Gegenteil. Vergebung kann ein harter Weg und ein längerer, schmerzhafter Prozess sein, gerade wenn es um schwere Verletzungen geht wie im erwähnten Fall. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass Gott den Betroffenen Kraft gibt und ihnen hilft, das scheinbar Unmögliche zu tun – so wie es das bewegende Zeugnis der Amish-People in Pennsylvania beweist.

Was bedeutet Vergebung?

Um jemandem eine Schuld zu erlassen, muss geklärt sein, welche Schuld vorliegt, damit sie auch tatsächlich vergeben werden kann.

Häufig habe ich mit Menschen zu tun, denen wirklich schlimme Dinge angetan wurden und die heute noch unter den negativen Folgen leiden. Dabei kommt es nicht selten vor, dass sie das Geschehene relativieren und sagen: «Naja, das war doch nicht so schlimm!» Oder: «Er/Sie wusste es nicht besser.» Auf dieser Grundlage ist keine Vergebung möglich! Was soll ich denn vergeben, wenn «es nicht so schlimm war»? Oftmals wird eine solche Haltung mit Vergebung verwechselt. Man denkt: «Wenn ich die Tat herunterspiele und ihr keine Bedeutung beimesse, dann habe ich vergeben.» Aber das ist ein Trugschluss. So stelle ich in Gesprächen mit Betroffenen immer wieder fest, dass sie gar nicht wirklich vergeben haben. Vergeben bedeutet niemals, Schuld unter den Teppich zu kehren! Wir sehen das auch am Beispiel von Joseph, als er seinen Brüdern vergibt, die ihm viel Leid angetan haben. Er macht es sich und ihnen nicht leicht. Vergebung kostet immer etwas. Gott selbst hat auch nicht einfach unsere Schuld unter den Teppich gekehrt und gesagt: «Es ist ja nicht so schlimm.» Nein, vergessen wir nicht: Gott hat den höchsten Preis bezahlt, indem er seinen geliebten Sohn für uns am Kreuz sterben liess. Wer sein Gnadengeschenk annimmt, ist teuer erkauft. Vergebung ist niemals billig!

Vergeben = Vergessen?

Manchmal wünschten wir uns, unser Gedächtnis würde wie ein Computer funktionieren. Wir müssten einfach die «Entfernen»-Taste drücken und alles wäre komplett gelöscht. Leider funktioniert unser Gedächtnis nicht so. Es ist eben kein passiver Speicher wie eine Festplatte, sondern weit mehr als das: ein aktives Organ.

So wird beispielsweise nicht alles 1:1 gespeichert, weil auch unsere Bewertung in «wichtig» und «unwichtig» eine Rolle spielt. Zudem können sich gespeicherte Informationen verändern. Es ist möglich, dass sich im Laufe der Jahre die Erinnerung an eine Begebenheit «verfärbt» und verfälscht wiedergegeben wird.

Lesen Sie den ganzen Artikel in ethos 04/2020.